Wann hat die High Fashion die sogenannte Streetwear entdeckt?
WOLFES Das ist eine jahrzehntelange Entwicklung. Vivienne Westwood hat bereits in den 1970er Jahren mit ihrer Mode und ihrem Laden in London den Punk aufgegriffen und umgesetzt. Aber auch die Japaner, etwa Rei Kawakubo und Comme de Garçon, haben diese Trends und ihren Zeitgeist integriert – letztendlich sind Streetwear oder Streetfashion ja Zeitgeist. Es sind die Spiegel der Jugend- und meistens Protestkulturen, die Strömungen aufgreifen und in Mode darstellen. Es wird immer auch Karl Lagerfeld genannt, der als erster Designer angefangen hat, Streetwear auf den Laufsteg zu bringen – und zwar bei unterschiedlichen Labels. Es war Lagerfelds Leistung bei Chanel. Er hat Elemente aus dem Alltag in die Mode dieses berühmten Hauses gebracht und die Marke entstaubt. Die Streetwear kommt also schon sehr lange auf die Laufstege und hat sich im Laufe der Jahre institutionalisiert. Punk ist salonfähig geworden und wir empfinden es nicht mehr als zeitgemäße Protestkleidung.
Werden durch das Absorbieren der Trends der Straße durch die Modeindustrie und durch die Allgemeinheit deren Intentionen verraten?
WOLFES Das ist der ganz normale Verlauf einer modischen Entwicklung. Wir haben immer eine Vorreitergruppe, die Looks neu als Ausdruck ihrer jeweiligen Zeit auf die Straße bringt. Dann haben wir die Early Adopters, die Trends früh aufgreifen, davon partizipieren und allmählich einen Vorreiter-Trend gängig machen. Dann kommen irgendwann die Nachzügler, die diesen Trend noch nach Jahren aufgreifen. Das ist ein ganz normaler Zyklus der Mode als Spiegel einer gesellschaftlichen Entwicklung, aber kein Verrat an einer ursprünglichen Idee.
Babyboomer, Handwerker, Banker – alle tragen Streetwear. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ihre Hintergründe und Herkunft werden nicht hinterfragt.
WOLFES Wir greifen das, was auf dem Markt angeboten wird, nach Gefallen auf und auch aus Bequemlichkeit. Es gibt natürlich immer Jugendliche und Gruppen, die sich modisch von gesellschaftlichen Schichten absetzen wollen. Ich war kürzlich in Berlin und habe einige junge Leute gesehen, die aussahen wie Geschäftsleute in den 1980er Jahren. Es gab auch ein paar Menschen, die gekleidet waren wie Beatniks. Sie sahen aus wie die frühen Beatles, mit Anzug, Hemden und einem eher gestriegelten Look. Sie setzen sich also ab von Casual und Sportswear. Aber das Kennzeichen unserer Epoche, ihr großer prägender Stil, ist die Funktionalität. Das geht einher mit dem Street- und Sportswears-Trend basierend auf verschiedenen Einflüssen. Der Übergang zwischen Sportswear-Kleidung und Alltag ist fließend. Wir haben nicht mehr diese scharfen Grenzen – und das ist gut so.
Wir sind im Alltag oft angezogen, als würden wir gleich zu einer Bergwanderung aufbrechen – manchmal ganz schön langweilig.
WOLFES Es ist legitim, das langweilig zu finden. Aber grundsätzlich bedeutet es, dass wir uns von einem Kleiderkodex befreit haben. Es ist ein Ausdruck unserer gelebten pluralistischen Gesellschaft. Die Menschen sind nicht mehr bestimmten Zwängen unterworfen. Was uns als Gesellschaft auszeichnet, sehen wir auch in unserer Mode. Es geht darum, niemanden wegen seines Alters, seiner Hautfarbe, seines Geschlechtes, seiner Größe oder anderer Merkmale auszugrenzen. Wir wollen die Vielfalt und die Akzeptanz des Individualismus.
Also ist dieses jahrzehntelange Integrieren der Streetwear in unseren Kleidungsstil ein demokratischer Diversitäts-Prozess?
WOLFES Ja, aber es funktioniert nicht nur in Demokratien, dass die Jugend bestimmte Dinge trägt, die dann nach und nach in andere Bevölkerungsgruppen hinein diffundieren. Durch Social Media werden daraus oft Welt-Trends. Sneakers und Hoodies funktionieren von Trier bis Neu Delhi, die Ethnografien lösen sich über unsere Kommunikationsmedien auf.
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